Nackte Tatsachen

DesousFoto

Abends halb sechs in Eisenstadt: wenn man vom Kulturzentrum aus die Fußgängerzone hinaufspaziert, dann führt der Weg unweigerlich an Steiner’s Kaffeehaus vorbei. Das Haus am besten Platz in Eisenstadt ist dunkel und eine nackte Leere strömt einem entgegen, wenn man durch die Schaufenster blickt. Die legendären Kremschnitten und Punschkrapferl, für das der Eisenstädter Traditionsbetrieb einst stand, sind nun Geschichte. Das einzige, was bleibt ist eines von Willi’s Gedichten an der Ladentür. Ein Dankeschön an seine Kunden und ein leises Servus. Ein kleiner Trost.

Ist man dann gerade noch damit beschäftigt die Zeilen des einstigen Konditorgeschäfts und Eisenstädter Urgesteins im Kopf sacken zu lassen und gedanklich Abschied zu nehmen, kommt ein paar Schritte weiter die nächste Überraschung, um nicht zu sagen der nächste Schock: ein komplettes Schaufenster vollgeklebt mit Models in einem Hauch von Nichts. So viele nackte Popos hat Eisenstadt noch nicht gesehen! Da hat einer der größten Dessous-Spezialisten Europas, vertreten in mittlerweile 16 Ländern mit 3500 Mitarbeitern und Lingerie-Marktführer in den Beneluxstaaten, nichts besseres zu tun, als sich da niederzulassen, wo abends um sechs die Bordsteine hochgeklappt werden. Eins ist auch klar, eigentlich kann Eisenstadt ja froh sein, daß H&M und jetzt Hunkemöller sich in der Kleinstadt ansiedeln, sonst wäre die Fuzo wahrscheinlich schon ausgestorben.

Wieder einmal ein Traditionsbetrieb mehr, der zugesperrt hat, dafür kommt ein europaweit bekanntes und angesagtes Lingerie-Geschäft – das grenzt ja fast schon an Ironie des Schicksals. Besser kann man die Veränderung des Zeitgeschehens wohl nicht darstellen. Da fragt man sich nur noch eins: Wird etwa das biedere Eisenstadt auf seine jungen (alten) Tage hin doch noch interessant?

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Meli, du hast das wirklich sehr liebevoll geschrieben 🙂

Hi Melanie, ganz lieber Artikel, danke!